Der Herr der Winde – Heidkamper Ingenieur ganz oben
Schülerzeitung Blackout, März 2011
„Puh!“ Sebastian Schmitter wischt sich den Schweiß von der Stirn. Er ist völlig aus der Puste. Drei mal musste er die letzten zehn Meter bis zur Gondel an einer Leiter rauf und runter klettern, um die gesamte Ausrüstung vom Ausstieg aus der Aufzugkabine bis zur Plattform in der Gondel zu bringen. Nun hockt er erschöpft auf der Plattform und wartet auf Arno Laubenthal, seinen Kollegen. Rund 12 Minuten dauert es, bis auch er den langen Weg vom Turmfuß bis zur Plattform in 90 Metern Höhe mit einer engen Aufzugkabine und einer Leiter auf den letzten Metern bewältigt hat. Zeit, um ein wenig zu verschnaufen. Schmitter fühlt, wie sich das Windrad leicht im Wind bewegt. Es ist still geworden in der Gondel, nur ein leichtes Schwanken und ein leises Rauschen vom Wind sind zu vernehmen. Vor dem Aufstieg haben Schmitter und Laubenthal das Windkraftwerk angehalten – ein Aufstieg bei laufendem Betrieb wäre viel zu gefährlich. Langsam beginnt Schmitter, sein Klettergeschirr und die Schutzausrüstung, die er zum Aufstieg benötigt hat, auszuziehen. Er wirft einen skeptischen Blick auf den schmalen Spalt unter dem Getriebe, durch den er sich gleich zwängen muss, um in den hinteren Teil der Anlage zu gelangen, in dem er das noch frei trudelnde Windrad mit einem 30 Zentimeter langen Bolzen feststellen muss, damit es sich bei einem besonders starken Windstoß nicht doch einmal dreht. Ohne die sperrige Ausrüstung müsste es gelingen. Vorsichtig beginnt Schmitter, unter dem Getriebe herzukriechen…
Windkraftanlagen – wo auch immer in Deutschland der Blick in die Ferne schweift, fast überall sind inzwischen am Horizont die großen weißen Türme mit den langen, sich ständig drehenden Rotorblättern zu erkennen. Keine andere erneuerbare Energietechnik wurde in den letzten Jahren so stark gefördert, wie die Windkraft. 2009 drehten sich laut dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 21.164 Windräder in der Bundesrepublik. Mit 6,3 % Prozent trägt die Windkraft mehr Strom zur Gesamtstromerzeugung in Deutschland bei als Wasserkraft und Sonnenenergie zusammen. Und der Boom der Windkraft kennt noch lange kein Ende: Wenn es nach den Vorstellungen der Politik geht, sollen im Jahre 2025 sogar 20 Prozent des Stromes aus Windenergie erzeugt werden.
Windräder „Made in Germany“ – Der neue deutsche Exportschlager
Nicht nur in der Stromerzeugung aus Wind ist Deutschland weltweit führend, auch die Entwicklung und Produktion von Windkraftanlagen ist in Deutschland zu einem wichtigen Industriezweig aufgestiegen. Und dabei werden über 80 Prozent der Anlagen ins Ausland verkauft. Windräder sind heute deutsche Exportschlager. Von China bis Amerika vertrauen die Investoren auf die Qualität der Technik „Made in Germany“.
Bevor eine Windkraftanlage in Betrieb gehen kann, stehen jedoch eine Reihe von Tests und Prüfungen an. Schon in der Entwicklungsphase werden die Funktionsweise und der Wirkungsgrad der Anlage laufend optimiert. Und vor Ort müssen die Anlagen bestimmte Grenzwerte einhalten, wie Lärmschutzvorschriften, die nach dem Aufbau der Anlage kontrolliert werden müssen.
Eine junge Firma vom Niederrhein wird zum „Globalplayer“
Die noch junge Firma Windtest aus Grevenbroich hat sich auf genau solche Messungen spezialisiert. Wie ein TÜV für Windkraftanlagen überprüft die unabhängige Firma seit 1996 Windräder auf Herz und Nieren – und das inzwischen weltweit. „Damals haben wir mit Weitsicht erkannt, dass nicht nur an den Küsten Strom aus erneuerbaren Energien gewonnen werden kann, sondern auch im Landesinnern“, berichtet Abteilungsleiter Frank Albers über das Unternehmen, das damals das erste Testfeld für Windräder im Binnenland einrichtete. Die Auftragslage ist gut, die Einsatzgebiete reichen heute von China bis Amerika. „Wir sind breit aufgestellt und damit auch für die Zukunft gewappnet. Gerade die neu erschlossenen Märkte in China, Indien oder den USA werden uns auch zukünftig neue Betätigungsfelder sichern.“ 23 Ingenieure beschäftigt das Unternehmen, um der Nachfrage nach Testmessungen nachzukommen. Der 25-Jahre junge Bachelor-Absolvent Sebastian Schmitter aus Bergisch Gladbach-Heidkamp wird am 1. Mai der 24. Ingenieur sein, der eine Festanstellung erhält.
Südlich der Stadt drehen sich die Rotorblätter der Prototypen, die Windkraftanlagenhersteller zu Testzwecken aufbauen lassen, auf dem firmeneigenen Testfeld. Heute hat Schmitter den Auftrag erhalten, zusammen mit seinem Kollegen die Messtechnik in der Nabe eines neuen Windradmodells auf dem Testfeld mit der Messelektronik im Fuße des Anlagenturms zu verbinden. Seit seinem Praktikum vor einem Jahr arbeitet der angehende Ingenieur für Akustik und Messtechnik als studentische Hilfskraft bei Windtest. Er fühlt sich wohl in dem beschaulichen, aber dennoch weltweit erfolgreichen Unternehmen vom Niederrhein. „Projekte in Europa, USA, Indien und China, abwechslungsreiche Aufgabenstellungen und ein super Team. Der Job macht mir riesig Spaß!“
Problemlos hat sich Schmitter durch den engen Spalt unter dem Getriebe her gezwängt. Nun schiebt er einen dreißig Zentimeter langen Bolzen in die Scheibenbremse der Anlage, um das Windrad sicher zu arretieren. Laubenthal, der ihm nachgefolgt ist, wirft einen prüfenden Blick auf seine Arbeit. „Bei der Arbeit im Windrad muss man sehr vorsichtig sein. Wir sind immer zu zweit, denn alleine wäre das viel zu gefährlich!“, berichtet Schmitter. Vor dem ersten Einsatz in der Windkraftanlage muss sich jeder Ingenieur einer ärztlichen Höhentauglichkeitsprüfung unterziehen. Außerdem haben sie eine Abseilschulung belegt, um im Notfall den Kollegen retten zu können.
„Wenn das Windrad nicht richtig arretiert ist, werden wir von den Schaltkästen im Innern der Nabe erschlagen!“
Schmitter über die Gefahren seiner Arbeit
Schmitter und sein Kollege kriechen unter dem Getriebe wieder zurück zur Aufstiegsöffnung, denn ihr eigentliches Arbeitsfeld liegt in der Nabe des Windrades. Hier, in der Spitze der Anlage, an der die drei Rotorblätter befestigt sind, liegen die Schaltkästen für die Messelektronik. Schmitter und sein Kollege haben das gesamte Messequipment, ihre Ausrüstung und diverses Werkzeug in die Turmspitze geschafft. Vorsichtig bringen sie nun ihr Arbeitsgerät zur schmalen Öffnung, die in die Nabe führt. Schmitter hält einen Moment inne und lauscht angestrengt. Sollte er das Windrad nicht ordentlich arretiert haben, könnte ein kräftiger Windstoß das Rad jederzeit in Bewegung setzen, und die beiden Ingenieure im Innern der Nabe wie Wäsche in einer Waschmaschinentrommel lebensgefährlich umherwirbeln. Außer dem leisen Rauschen des Windes kann er nichts Verdächtiges vernehmen. Dennoch steigt ihm ein mulmiges Gefühl in der Magengegend hoch. Nach einem letzten versichernden Blick zu seinem Kollegen, beginnt er, sich durch die enge Öffnung ins Innere der Nabe zu zwängen.
Die Windkraft erlebte eine beispiellose Renaissance
Schon seit Jahrhunderten nutzen Menschen die ungeheure Kraft des Windes. Noch heute zeugen die letzten erhaltenen, beeindruckenden Windmühlen in den Niederlanden und großen Teilen Deutschlands von dieser Tradition. Als jedoch im 19. Jahrhundert die Kraft der Dampfmaschine den Menschen unabhängig von Wasser und Wind machte, neigte sich auch die Zeit der Windmühlen dem Ende zu. Doch die Windkraft erlebte eine beispiellose Renaissance: Schon 1890 berichtet das renommierte amerikanische Wissenschaftsmagazin „Scientific American“ über den Erfinder Charles Francis Brush, der in seinem Garten ein Windrad baute, um sein Haus mit elektrischer Energie zu versorgen. Das Prinzip ist verblüffend einfach: Statt wie früher einen Mahlstein oder eine Wasserpumpe anzutreiben, wird die Drehbewegung des Rades nun genutzt, um in einem Generator Strom zu erzeugen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Energiebedarf der wachsenden Weltbevölkerung grenzenlos und der Ruf nach neuen Energiequellen immer lauter. Die zunehmend sichtbare Umweltverschmutzung durch Energiegewinnung aus Öl, Kohle und Gas veranlasste die Politik, die Entwicklung erneuerbarer Energien zu fördern. Da die Kraft des Windes nahezu überall verfügbar ist, wurde die Windkraft schon bald zur wichtigsten regenerativen Energieform. Aus den beschaulichen Windmühlen von damals sind heute bis zu zweihundert Meter hohe, schlichte, weiße Windräder geworden, die Deutschland von den Küsten im Norden bis zu den Alpen im Süden bevölkern.
Glänzende Karriereperspektiven in einer aufstrebenden Branche
Und die Erfolgsgeschichte des Windrades geht weiter. Schon heute sind über 100.000 Ingenieure in Deutschlands Windkraftbranche beschäftigt. Die Nachfrage nach qualifizierten Kräften ist groß. Gesucht sind technisches Know-How wie auch gute Sprachkenntnisse, schließlich sind deutsche Windkraftunternehmen international tätig. Der Präsident des Bundesverbandes WindEnergie, Hermann Albers, erläutert die hervorragenden Karriereperspektiven in dieser neuen Branche: „Die Herausforderungen des Klimaschutzes bringen frischen Wind in den deutschen Arbeitsmarkt. Hochschulabsolventen und Facharbeiter können sich in der Windindustrie auf einen spannenden, abwechslungsreichen und vor allem zukunftssicheren Arbeitsplatz freuen!“
Endlich ist es geschafft! Schmitter und Laubentahl haben erfolgreich alle drei Schaltkästen mit den Schleifkontakten an der Nabe und dann mit der Messelektronik im Turmfuß verkabelt. Die Arbeit zu zweit in der engen Nabe, in der ein erwachsener Mensch nicht aufrecht stehen kann, hat Nerven gekostet. Doch bevor die beiden Ingenieure voreilig in den wohlverdienten Feierabend aufbrechen, müssen sie die Nabe gründlich aufräumen. Kein Werkzeug, kein loses Arbeitsmaterial darf zurückbleiben. „Die kleinste Schraube könnte, wenn sich das Windrad wieder dreht, mit ungeheurer Kraft in der Nabe herum fliegen und die empfindliche Technik zerstören.“, gibt Schmitter zu bedenken. Ein letzter prüfender Blick, und Schmitter und sein Kollege verlassen die Nabe wieder. Bevor sie das Windrad wieder in Betrieb nehmen, gönnen sie sich jedoch noch eine kleine Verschnaufpause. Schmitter und Laubenthal klettern durch die schmale Luke auf das Dach der Gondel hinaus – natürlich gut gesichert mit Helm und Klettergeschirr. Vorsichtig richtet sich Schmitter auf. Keine zwei Meter neben ihm endet die Plattform ohne Begrenzung. Schmitter spürt die Kälte des frischen Dezemberwindes auf der Haut. Der Schnee hat das Testfeld in eine weiße Winterlandschaft verwandelt. Schmitter genießt die Aussicht und die frische Luft nach der stundenlangen Arbeit in der dunklen Nabe des Rades. Es sind auch diese vermeintlich kurzen Momente, die Schmitter so an seiner Arbeit schätzt.
Nachdem alle Arbeitsgeräte zusammengepackt sind, klettern die beiden Ingenieure wieder in den hinteren Teil der Anlage um die Arretierung zu lösen und das Windrad in Bewegung zu setzen. Einen Moment lang zögert das Rad noch, dann fährt der Wind in die Blätter und Schmitter spürt, wie die Anlage deutlich hin und her schwingt. Die Ruhe der letzten Stunden ist nun schlagartig vorbei. Schmitter horcht noch einmal an der Nabe nach verdächtigen Geräuschen von einem zurückgebliebenen Werkzeug. Dann macht er sich an den Abstieg. Nach mehr als sechs Stunden verlässt Schmitter seinen Arbeitsplatz in luftiger Höhe wieder. Es wird nicht der letzte Einsatz für den Herrn der Winde gewesen sein…
Lukas B. Kohlenbach
Anmerkung: Aus versicherungstechnischen Gründen durfte ich Sebastian Schmitter und seinen Kollegen nicht auf das Windrad begleiten. Die Szenen im Windrad sind in enger Absprache mit ihnen nachempfunden worden.